Die sieben Belehrungen der Toten
Septem Sermones Ad Mortuos
Die sieben Belehrungen der Toten. Geschrieben von Basilides in Alexandria, der Stadt, wo der Osten den Westen berührt.
Transcribiert von C.G. Jung 1916
NUIT
Sermo I
Die Toten kamen zurück von Jerusalem, wo sie nicht fanden, was sie suchten. Sie begehrten bei mir Einlass und verlangten bei mir Lehre und so lehrte ich sie:
Höret, ich beginne beim Nichts. Das Nichts ist dasselbe wie die Fülle. In der Unendlichkeit ist voll so gut wie leer. Das Nichts ist leer und voll. Ihr könnt auch ebenso gut etwas anderes vom Nichts sagen, zum Beispiel es sei weiß oder schwarz oder es sei nicht, oder es sei. Ein Unendliches und Ewiges hat keine Eigenschaften, weil es alle Eigenschaften hat. Das Nichts oder die Fülle nennen wir das PLEROMA. Dort drin hört Denken und Sein auf, denn das Ewige und Unendliche hat keine Eigenschaften. In ihm ist keiner, denn er wäre dann vom Pleroma unterschieden und hätte Eigenschaften, die ihn als etwas vom Pleroma unterschieden. Im Pleroma ist nichts und alles: Es lohnt sich nicht über das Pleroma nachzudenken, denn das hieße: Sich selber auflösen.
Die CREATUR ist nicht im Pleroma, sondern in sich. Das Pleroma ist Anfang und Ende der Creatur. Es geht durch sie hindurch, wie das Sonnenlicht die Luft überall durchdringt. Obschon das Pleroma durchaus hindurch geht, so hat die Creatur doch nicht Theil daran, so wie ein vollkommen durchsichtiger Körper weder hell noch dunkel wird durch das Licht, das durch ihn hindurch geht. Wir sind aber das Pleroma selber, denn wir sind ein Theil des Ewigen und Unendlichen. Wir haben aber nicht theil daran, sondern sind vom Pleroma unendlich weit entfernt, nicht räumlich oder zeitlich, sondern WESENTLICH, indem wir uns im Wesen vom Pleroma unterscheiden als Creatur, die in Zeit und Raum beschränkt ist.
Indem wir aber Theile des Pleroma sind, so ist das Pleroma auch in uns. Auch im kleinsten Punkt ist das Pleroma unendlich, ewig und ganz, denn klein und groß sind Eigenschaften, die in ihm enthalten sind. Es ist dies Nichts, das überall ganz ist und unaufhörlich. Daher rede ich von der Creatur als einem Theile des Pleroma, nur sinnbildlich, denn das Pleroma ist wirklich nirgends geteilt, denn es ist das Nichts. Wir sind auch das ganze Pleroma, denn sinnbildlich ist das Pleroma der kleinste nur angenommene, nicht seiende Punkt in uns und das unendliche Weltgewölbe um uns.
Warum aber sprechen wir denn überhaupt vom Pleroma, wenn es doch Alles und Nichts ist ? Ich rede davon, um irgendwo zu beginnen, und um Euch den Wahn zu nehmen, dass irgendwo außen oder innen ein von vornherein Festes oder irgendwie Bestimmtes sei. Alles sogenannte Feste oder Bestimmte ist nur verhältnismäßig. Nur das dem Wandel unterworfene ist fest und bestimmt. Das wandelbare aber ist die Creatur, also ist sie das einzig feste und bestimmte, denn sie hat Eigenschaften, ja sie ist selber Eigenschaft.
Wir erheben die Frage: wie ist die Creatur entstanden? Die Creaturen sind entstanden, nicht aber die Creatur, denn sie ist die Eigenschaft des Pleroma selber, so gut wie die Nichtschöpfung, der ewige Tod. Creatur ist immer und überall, Tod ist immer und überall. Das Pleroma hat alles, Unterschiedenheit und Ununterschiedenheit.
Die Unterschiedenheit ist die Creatur. Sie ist unterschieden. Unterschiedenheit ist ihr Wesen, darum unterscheidet sie auch. Darum unterscheidet der Mensch, denn sein Wesen ist Unterschiedenheit. Darum unterscheidet er auch die Eigenschaften des Pleroma, die nicht sind. Er unterscheidet sie aus seinem Wesen heraus. Darum muss der Mensch von den Eigenschaften des Pleroma reden, die nicht sind.
Ihr sagt: Was nützt es, davon zu reden? Du sagtest doch selbst, es lohne sich nicht, über das Pleroma zu denken. Ich sagte Euch das, um Euch vom Wahne zu befreien, dass man über das Pleroma denken könne. Wenn wir die Eigenschaften des Pleroma unterscheiden, so reden wir aus unsrer Unterschiedenheit und über unsre Unterschiedenheit, und haben nichts gesagt über das Pleroma. Über unsere Unterschiedenheit aber zu reden ist notwendig, damit wir uns genügend unterscheiden können. Unser Wesen ist Unterschiedenheit. Wenn wir diesem Wesen nicht getreu sind, so unterscheiden wir uns ungenügend. Wir müssen darum Unterscheidungen der Eigenschaften machen.
Ihr fragt: Was schadet es, sich nicht zu unterscheiden? Wenn wir nicht unterscheiden, dann geraten wir über unser Wesen hinaus, über die Creatur hinaus und fallen in die Ununterschiedenheit, die die andere Eigenschaft des Pleroma ist. Wir fallen in das Pleroma selber und geben es auf, Creatur zu sein. Wir verfallen der Auflösung im Nichts. Das ist der Tod der Creatur. Also sterben wir in dem Maße, als wir nicht unterscheiden. Darum geht das natürliche Streben der Creatur auf Unterschiedenheit, Kampf gegen uranfängliche, gefährliche Gleichheit.
Dieß nennt man das PRlNCIPIUM INDIVIDUATIONIS. Dieses Princip ist das Wesen der Creatur. Ihr seht daraus, warum die Ununterschiedenheit und das Nichtunterscheiden eine große Gefahr für die Creatur ist. Darum müssen wir die Eigenschaften des Pleroma unterscheiden. Die Eigenschaften sind die GEGENSATZPAARE, als
das Wirksame und das Unwirksame,
die Fülle und die Leere,
das Lebendige und das Tote,
das Verschiedene und das Gleiche,
das Helle und das Dunkle,
das Heiße und das Kalte,
Die Kraft und der Stoff,
die Zeit und der Raum,
das Gute und das Böse,
das Schöne und das Häßliche,
das Eine und das Viele. etc.
Die Gegensatzpaare sind die Eigenschaften des Pleroma, die nicht sind, weil sie sich aufheben. Da wir das Pleroma selber sind, so haben wir auch alle diese Eigenschaften in uns; da der Grund unsres Wesens Unterschiedenheit ist, so haben wir die Eigenschaften im Namen und Zeichen der Unterschiedenheit, das bedeutet:
Erstens: die Eigenschaften sind in uns von einander unterschieden und geschieden, darum heben sie sich nicht auf, sondern sind wirksam. Darum sind wir das Opfer der Gegensatzpaare. In uns ist das Pleroma zerrissen.
Zweitens: Die Eigenschaften gehören dem Pleroma, und wir können und sollen sie nur im Namen und Zeichen der Unterschiedenheit besitzen oder leben. Wir sollen uns von den Eigenschaften unterscheiden. Im Pleroma heben sie sich auf, in uns nicht. Unterscheidung von ihnen erlöst. Wenn wir nach dem Guten oder Schönen streben, so vergessen wir unsres Wesens, das Unterschiedenheit ist und wir verfallen den Eigenschaften des Pleroma, als welche die Gegensatzpaare sind. Wir bemühen uns, das Gute und Schöne zu erlangen, aber zugleich auch erfassen wir das Böse und Hässliche, denn sie sind im Pleroma eins mit dem Guten und Schönen. Wenn wir aber unserm Wesen getreu bleiben, nämlich der Unterschiedenheit, dann unterscheiden wir uns vom Guten und Schönen, und darum auch vom Bösen und Hässlichen, und wir fallen nicht ins Pleroma, nämlich in das Nichts und in die Auflösung
Ihr werfet ein: Du sagtest, dass das Verschiedene und Gleiche auch Eigenschaften des Pleroma seien. Wie ist es, wenn wir nach Verschiedenheit streben? Sind wir dann nicht unserm Wesen getreu? Und müssen wir dann auch der Gleichheit verfallen, wenn wir nach Verschiedenheit streben?
Ihr sollt nicht vergessen, dass das Pleroma keine Eigenschaften hat. Wir erschaffen sie durch das Denken. Wenn Ihr also nach Verschiedenheit oder Gleichheit oder sonstigen Eigenschaften strebt, so strebt Ihr nach Gedanken, die Euch aus dem Pleroma zufließen, nämlich Gedanken über die nichtseienden Eigenschaften des Pleroma. Indem Ihr nach diesen Gedanken rennt, fallet Ihr wiederum ins Pleroma und erreicht Verschiedenheit und Gleichheit zugleich. Nicht euer Denken, sondern euer Wesen ist Unterschiedenheit. Darum sollt Ihr nicht nach Verschiedenheit, wie Ihr sie denkt, streben, sondern NACH EUERM WESEN. Darum giebt es im Grunde nur ein Streben, nämlich das Streben nach dem eigenen Wesen. Wenn Ihr dieses Streben hättet, so brauchtet Ihr auch gar nichts über das Pleroma und seine Eigenschaften zu wissen und kämet doch zum richtigen Ziele kraft eures Wesens. Da aber das Denken vom Wesen entfremdet, so muss ich Euch das Wissen lehren, womit Ihr euer Denken im Zaume halten könnet.
Sermo II
Die Toten standen in der Nacht den Wänden entlang und riefen: Von Gott wollen wir wissen, wo ist Gott? Ist Gott tot? Gott ist nicht tot, er ist so lebendig wie je. Gott ist Creatur denn er ist etwas Bestimmtes und darum vom Pleroma unterschieden. Gott ist Eigenschaft des Pleroma, und alles was ich von der Creatur sagte gilt auch von ihm.
Er unterscheidet sich aber von der Creatur dadurch, dass er viel undeutlicher und unbestimmbarer ist, als die Creatur. Er ist weniger unterschieden als die Creatur, denn der Grund seines Wesens ist wirksame Fülle, und nur insofern er bestimmt und unterschieden ist, ist er Creatur, und insofern ist er die Verdeutlichung der wirksamen Fülle des Pleroma.
Alles, was wir nicht unterscheiden, fällt ins Pleroma und hebt sich mit seinem Gegensatz auf. Darum, wenn wir Gott nicht unterscheiden, so ist die wirksame Fülle für uns aufgehoben. Gott ist auch das Pleroma selber, wie auch jeder kleinste Punkt im Geschaffenen und im Ungeschaffenen das Pleroma selber ist.
Die wirksame Leere ist das Wesen des Teufels. Gott und Teufel sind die ersten Verdeutlichungen des Nichts, das wir Pleroma nennen. Es ist gleichgültig, ob das Pleroma ist, oder nicht ist, denn es hebt sich in allem selber auf. Nicht so die Creatur. Insofern Gott und Teufel Creaturen sind, heben sie sich nicht auf, sondern bestehen gegen einander als wirksame Gegensätze. Wir brauchen keinen Beweis für ihr Sein, es genügt, dass wir immer wieder von ihnen reden müssen. Auch wenn beide nicht wären, so würde die Creatur, aus ihrem Wesen der Unterschiedenheit heraus, sie immer wieder aus dem Pleroma heraus unterscheiden.Alles was die Unterscheidung aus dem Pleroma herausnimmt, ist Gegensatzpaar, daher zu Gott immer auch der Teufel gehört. Diese Zusammengehörigkeit ist so innig, und wie Ihr erfahren habet, auch in euerem Leben so unauflösbar, wie das Pleroma selber. Das kommt davon, dass die Beiden ganz nahe am Pleroma stehen, in welchem alle Gegensätze aufgehoben und eins sind.
Gott und Teufel sind unterschieden durch voll und leer, Zeugung und Zerstörung. Das WIRKENDE ist ihnen gemeinsam. Das Wirkende verbindet sie. Darum steht das Wirkende über beiden und ist ein Gott über Gott, denn es vereinigt die Fülle und die Leere in ihrer Wirkung. Dies ist ein Gott, von dem Ihr nicht wusstet, denn die Menschen vergaßen ihn. Wir nennen ihn mit seinem Namen ABRAXAS. Er ist noch unbestimmter als Gott und Teufel.
ABRAXAS
Um Gott von ihm zu unterscheiden, nennen wir Gott HELIOS oder Sonne. Der Abraxas ist Wirkung, ihm steht nichts entgegen, als das Unwirkliche, daher seine wirkende Natur sich frei entfaltet. Das Unwirkliche ist nicht, und widersteht nicht. Der Abraxas steht über der Sonne und über dem Teufel. Er ist das unwahrscheinlich Wahrscheinliche, das unwirklich Wirkende. Hätte das Pleroma ein Wesen, so wäre der Abraxas seine Verdeutlichung.
Er ist zwar das Wirkende selbst, aber keine bestimmte Wirkung, sondern Wirkung überhaupt. Er ist unwirklich wirkend, weil er keine bestimmte Wirkung hat. Er ist auch Creatur, da er vom Pleroma unterschieden ist. Die Sonne hat eine bestimmte Wirkung, ebenso der Teufel, daher sie uns viel wirksamer erscheinen als der unbestimmbare Abraxas. Er ist Kraft, Dauer, Wandel. Hier erhoben die Toten großen Tumult denn sie waren Christen.
Sermo III
Die Toten kamen heran wie Nebel aus Sümpfen und riefen: Rede uns weiter über den obersten Gott.Der Abraxas ist der schwer erkennbare Gott. Seine Macht ist die größte, denn der Mensch sieht sie nicht. Von der Sonne sieht er das summum bonum, vom Teufel das infimum malum, vom Abraxas aber das in allen Hinsichten unbestimmte LEBEN, welches die Mutter des Guten und des Übels ist. Das Leben scheint kleiner und schwächer zu sein als das summum bonum, weshalb es auch schwer ist zu denken, dass der Abraxas an Macht sogar die Sonne übertreffe, die doch der strahlende Quell aller Lebenskraft selber ist.
Der Abraxas ist Sonne und zugleich der ewig saugende Schlund des Leeren, des Verkleinerers und Zerstücklers, des Teufels. Die Macht des Abraxas ist zwiefach. Ihr seht sie aber nicht, denn in Euern Augen hebt sich das Gegeneinander gerichtete dieser Macht auf. Was Gott Sonne spricht, ist Leben, was der Teufel spricht, ist Tod.
Der Abraxas aber spricht das verehrungswürdige und verfluchte Wort, das Leben und Tod zugleich ist. Der Abraxas zeugt Wahrheit und Lüge, Gutes und Böses, Licht und Finsterniß im selben Wort, und in derselben Tat. Darum ist der Abraxas furchtbar. Er ist prächtig wie der Löwe im Augenblick, wo er sein Opfer niederschlägt. Er ist schön wie ein Frühlingstag. Ja, er ist der große Pan selber und der kleine. Er ist Priapos. Er ist das Monstrum der Unterwelt, ein Polyp mit tausend Armen, beflügeltes Schlangengeringel, Raserei.
Er ist der Hermaphrodit des untersten Anfanges. Er ist der Herr der Kröten und Frösche, die im Wasser wohnen und ans Land steigen, die am Mittag und um Mitternacht im Chore singen. Er ist das Volle, das sich mit dem Leeren einigt. Er ist die heilige Begattung, Er ist die Liebe und ihr Mord, Er ist der heilige und sein Verräter. Er ist das hellste Licht des Tages und die tiefste Nacht des Wahnsinns. Ihn sehen, heißt Blindheit, Ihn erkennen heißt Krankheit, Ihn anbeten heißt Tod, Ihn fürchten heißt Weisheit, Ihm nicht widerstehen heißt Erlösung.
Gott wohnt hinter der Sonne, der Teufel wohnt hinter der Nacht. Was Gott aus dem Licht gebiert, zieht der Teufel in die Nacht. Der Abraxas aber ist die Welt, ihr Werden und Vergehen selber. Zu jeder Gabe des Gottes Sonne stellt der Teufel seinen Fluch. Alles, was Ihr vom Gott Sonne erbittet, zeugt eine Tat des Teufels. Alles, was Ihr mit Gott Sonne erschafft, giebt dem Teufel Gewalt des Wirkens.
Das ist der furchtbare Abraxas.
Er ist die gewaltigste Creatur und in ihm erschrickt die Creatur vor sich selbst.
Er ist der geoffenbarte Widerspruch der Creatur gegen das Pleroma und sein Nichts.
Er ist das Entsetzen des Sohnes vor der Mutter.
Er ist die Liebe der Mutter zum Sohne.
Er ist das Entzücken der Erde und die Grausamkeit der Himmel.
Der Mensch erstarrt vor seinem Antlitz.
Vor ihm giebt es nicht Frage und nicht Antwort.
Er ist das Leben der Creatur.
Er ist das Wirken der Unterschiedenheit.
Er ist die Liebe des Menschen.
Er ist die Rede des Menschen.
Er ist der Schein und der Schatten des Menschen.
Er ist die täuschende Wirklichkeit.
Hier heulten und tobten die Toten, denn sie waren Unvollendete.
Sermo IV
Die Toten füllten murrend den Raum und sprachen: Rede zu uns von Göttern und Teufeln, Verfluchter. Gott Sonne ist das höchste Gut, der Teufel das Gegenteil, also habt Ihr zwei Götter. Es gibt aber viele hohe Güter und viele schwere Übel, und darunter giebt es zwei Gottteufel, der eine ist das BRENNENDE und der andere das WACHSENDE. Das Brennende ist der EROS in Gestalt der Flamme. Sie leuchtet, indem sie verzehrt. Das Wachsende ist der BAUM DES LEBENS, er grünt, indem er wachsend lebendigen Stoff anhäuft. Der Eros flammt auf und stirbt dahin, der Lebensbaum aber wächst langsam und stetig durch ungemessene Zeiten.
Gutes und Übles einigt sich in der Flamme. Gutes und Übles einigt sich im Wachstum des Baumes. Leben und Liebe stehen in ihrer Göttlichkeit gegeneinander. Unermesslich, wie das Heer der Sterne ist die Zahl der Götter und Teufel. Jeder Stern ist ein Gott und jeder Raum, den ein Stern füllt, ist ein Teufel. Das Leervolle des Ganzen aber ist das Pleroma. Die Wirkung des Ganzen ist der Abraxas, nur Unwirkliches steht ihm entgegen. Vier ist die Zahl der Hauptgötter, denn vier ist die Zahl der Ausmessungen der Welt. Eins ist der Anfang, der Gott Sonne.
Zwei ist der Eros, denn er verbindet Zwei und breitet sich leuchtend aus. Drei ist der Baum des Lebens, denn er füllt den Raum mit Körpern. Vier ist der Teufel, denn er öffnet alles Geschlossene; er löst auf alles Geformte und Körperliche, er ist der Zerstörer, in dem Alles zu Nichts wird. Wohl mir, dass es mir gegeben ist, die Vielheit und Verschiedenartigkeit der Götter zu erkennen. Wehe Euch dass Ihr diese unvereinbare Vielheit durch den einen Gott ersetzt. Dadurch schafft Ihr die Qual des Nichtverstehens und die Verstümmelung der Creatur, deren Wesen und Trachten Unterschiedenheit ist. Wie seid Ihr eurem Wesen getreu, wenn Ihr das Viele zum Einen machen wollt? Was Ihr an den Göttern tut, geschieht auch an Euch. Ihr werdet alle gleich gemacht und so ist euer Wesen verstümmelt.
Um des Menschen willen herrsche Gleichheit, aber nicht um Gottes willen, denn der Götter sind viele, der Menschen aber wenige. Die Götter sind mächtig, und ertragen ihre Mannigfaltigkeit, denn wie die Sterne stehen sie in Einsamkeit und ungeheurer Entfernung von einander. Die Menschen sind schwach und ertragen ihre Mannigfaltigkeit nicht, denn sie wohnen nahe beisammen und bedürfen der Gemeinschaft, um ihre Besonderheit tragen zu können. Um der Erlösung willen lehre ich Euch das Verwerfliche, um dessentwillen ich verworfen ward. Die Vielzahl der Götter entspricht der Vielzahl der Menschen. Unzählige Götter harren der Menschwerdung. Unzählige Götter sind Menschen gewesen. Der Mensch hat am Wesen der Götter teil, er kommt von den Göttern und geht zum Gotte.
So, wie es sich nicht lohnt über das Pleroma nachzudenken, so lohnt es sich nicht, die Vielheit der Götter zu verehren. Am wenigsten lohnt es sich, den ersten Gott, die wirksame Fülle und das summum bonum, zu verehren. Wir können durch unser Gebet nichts dazu tun und nichts davon nehmen, denn die wirksame Leere schluckt alles in sich auf. Die hellen Götter bilden die Himmelswelt, sie ist vielfach und unendlich sich erweiternd und vergrößernd. Ihr oberster Herr ist der Gott Sonne.
Die dunkeln Götter bilden die Erdenwelt. Sie sind einfach und unendlich sich verkleinernd und vermindernd. Ihr unterster Herr ist der Teufel, der Mondgeist, der Trabant der Erde, kleiner und kälter und toter als die Erde. Es ist kein Unterschied in der Macht der himmlischen und der erdhaften Götter. Die himmlischen vergrößern, die erdhaften verkleinern. Unermesslich ist beiderlei Richtung.
Sermo V
Die Toten spotteten und riefen: Lehre uns, Narr, von Kirche und heiliger Gemeinschaft. Die Welt der Götter verdeutlicht sich in der Geistigkeit und in der Geschlechtlichkeit. Die himmlischen erscheinen in der Geistigkeit, die erdhaften in der Geschlechtlichkeit.
Geistigkeit empfängt und erfasst. Sie ist weiblich und darum nennen wir sie die MATER COELESTIS, die himmlische Mutter. Geschlechtlichkeit zeugt und erschafft. Sie ist männlich und darum nennen wir sie PHALLOS, den erdhaften Vater. Die Geschlechtlichkeit des Mannes ist mehr erdhaft, die Geschlechtlichkeit des Weibes ist mehr geistig. Die Geistigkeit des Mannes ist mehr himmlisch, sie geht zum Größeren.
Die Geistigkeit des Weibes ist mehr erdhaft, sie geht zum Kleineren. Lügnerisch und teuflisch ist die Geistigkeit des Mannes, die zum Kleineren geht. Lügnerisch und teuflisch ist die Geistigkeit des Weibes, die zum Größern geht. Jeder gehe zu seiner Stelle.
Mann und Weib werden aneinander zum Teufel, wenn sie ihre geistigen Wege nicht trennen, denn das Wesen der Creatur ist Unterschiedenheit. Die Geschlechtlichkeit des Mannes geht zum Erdhaften, die Geschlechtlichkeit des Weibes geht zum Geistigen. Mann und Weib werden aneinander zum Teufel, wenn sie ihre Geschlechtlichkeit nicht trennen. Der Mann erkenne das Kleinere, das Weib das Größere.
Der Mensch unterscheide sich von der Geistigkeit und von der Geschlechtlichkeit. Er nenne die Geistigkeit Mutter und setze sie zwischen Himmel und Erde. Er nenne die Geschlechtlichkeit Phallos und setze ihn zwischen sich und die Erde, denn die Mutter und der Phallos sind übermenschliche Dämonen und Verdeutlichungen der Götterwelt. Sie sind uns wirksamer als die Götter, weil sie unserm Wesen nahe verwandt sind. Wenn Ihr Euch von Geschlechtlichkeit und von Geistigkeit nicht unterscheidet und sie nicht als Wesen über Euch und um Euch betrachtet, so verfallt Ihr ihnen als Eigenschaften des Pleroma. Geistigkeit und Geschlechtlichkeit sind nicht Eure Eigenschaften, nicht Dinge, die Ihr besitzt und umfasst, sondern sie besitzen und umfassen Euch, denn sie sind mächtige Dämonen, Erscheinungsformen der Götter, und darum Dinge, die über Euch hinaus reichen und an sich bestehen. Es hat einer nicht eine Geistigkeit für sich oder eine Geschlechtlichkeit für sich, sondern er steht unter dem Gesetz der Geistigkeit und der Geschlechtlichkeit.
Darum entgeht keiner diesen Dämonen. Ihr sollt sie ansehen als Dämonen und als gemeinsame Sache und Gefahr, als gemeinsame Last, die das Leben euch aufgebürdet hat. So ist Euch auch das Leben eine gemeinsame Sache und Gefahr, ebenso auch die Götter und zuvorderst der furchtbare Abraxas.
Der Mensch ist schwach, darum ist Gemeinschaft unerläßlich; ist es nicht die Gemeinschaft im Zeichen der Mutter, so ist es sie im Zeichen des Phallos. Keine Gemeinschaft ist Leiden und Krankheit. Gemeinschaft in jeglichem ist Zerrissenheit und Auflösung. Die Unterschiedenheit führt zum Einzel sein. Einzel sein ist gegen Gemeinschaft. Aber um der Schwäche des Menschen willen gegenüber den Göttern und Dämonen und ihrem unüberwindlichen Gesetz ist Gemeinschaft nötig. Darum sei so viel Gemeinschaft als nötig, nicht um der Menschen willen, sondern wegen der Götter. Die Götter zwingen Euch zur Gemeinschaft. So viel sie Euch zwingen, so viel Gemeinschaft tut not, mehr ist von Übel.
In der Gemeinschaft ordne sich jeder dem andern unter, damit die Gemeinschaft erhalten bleibe, denn Ihr bedürft ihrer. Im Einzel sein ordne sich einer dem andern über, damit jeder zu sich selber komme und Sklaverei vermeide. In der Gemeinschaft gelte Enthaltung, im Einzel sein gelte Verschwendung. Die Gemeinschaft ist die Tiefe, das Einzel sein ist Höhe. Das richtige Maß in Gemeinschaft reinigt und erhält. Das richtige Maß im Einzel sein reinigt und fügt hinzu. Die Gemeinschaft giebt uns die Wärme, das Einzel sein giebt uns das Licht.
Sermo VI
Der Dämon der Geschlechtlichkeit tritt zu unsrer Seele als eine Schlange. Sie ist zur Hälfte Menschenseele und heißt Gedankenwunsch. Der Dämon der Geistigkeit senkt sich in unsre Seele herab als der weiße Vogel. Er ist zur Hälfte Menschenseele und heißt Wunschgedanke.
Die Schlange ist eine erdhafte Seele, halb dämonisch, ein Geist und verwandt den Geistern der Toten. Wie diese, so schwärmt auch sie herum in den Dingen der Erde und bewirkt, dass wir sie fürchten, oder dass sie unsere Begehrlichkeit reizen. Die Schlange ist weiblicher Natur und sucht immer die Gesellschaft der Toten, die an die Erde gebannt sind, solche, die den Weg nicht hinüberfanden, nämlich ins Einzel sein. Die Schlange ist eine Hure und buhlt mit dem Teufel und mit den bösen Geistern, ein arger Tyrann und Quälgeist, immer zu übelster Gemeinschaft verführend. Der weiße Vogel ist eine halbhimmlische Seele des Menschen. Sie weilt bei der Mutter und steigt bisweilen herab. Der Vogel ist männlich und ist wirkender Gedanke. Er ist keusch und einsam, ein Bote der Mutter. Er fliegt hoch über die Erde. Er gebietet das Einzel sein. Er bringt Kunde von den Fernen, die vorangegangen und vollendet sind. Er trägt unser Wort herum in den Dingen der Erde und bewirkt, dass wir sie fürchten, oder dass sie unsere Begehrlichkeit reizen.
Die Toten blickten mit Verachtung und sprachen: Höre auf von Göttern, Dämonen und Seelen zu reden. Das wussten wir im Grunde schon längst.
Sermo VII
Des Nachts aber kamen die Toten wieder mit kläglicher Gebärde und sprachen: Noch eines, wir vergaßen davon zu reden, lehre uns vom Menschen. Der Mensch ist ein Thor, durch das Ihr aus der Außenwelt der Götter, Dämonen und Seelen eintretet in die Innenwelt, aus der größeren Welt in die kleinere Welt. Klein und nichtig ist der Mensch, schon habt Ihr ihn im Rücken, und wiederum seid Ihr im unendlichen Raume, in der kleineren oder inneren Unendlichkeit.In unermesslicher Entfernung steht ein einziger Stern im Zenith.
Dies ist der eine Gott dieses Einen, dies ist seine Welt, sein Pleroma, seine Göttlichkeit. In dieser Welt ist der Mensch der Abraxas, der seine Welt gebiert oder verschlingt. Dieser Stern ist der Gott und das Ziel des Menschen. Dies ist sein einer führender Gott, in ihm geht der Mensch zur Ruhe, zu ihm geht die lange Reise der Seele nach dem Tode, in ihm erglänzt als Licht alles, was der Mensch aus der größeren Welt zurückzieht. Zu diesem einen bete der Mensch. Das ebet mehrt das Licht des Sternes, es schlägt eine Brücke über den Tod, es bereitet das Leben der kleineren Welt, und mindert das hoffnungslose Wünschen der größeren Welt. Wenn die größere Welt kalt wird, leuchtet der Stern. Nichts ist zwischen dem Menschen und seinem einen Gotte, sofern der Mensch seine Augen vom flammenden Schauspiel des Abraxas abwenden kann. Mensch hier, Gott dort. Schwachheit und Nichtigkeit hier, ewige Schöpferkraft dort. Hier ganz Dunkelheit und feuchte Kühle, dort ganz Sonne.
Darauf schwiegen die Toten und stiegen empor wie Rauch über dem Feuer des Hirten, der des Nachts seiner Herde wartete.
ANAGRAMMA:
NAHTRIHECCUNDE GAHINNEVERAHTUNIN ZEHGESSURKLACH ZUNNUS
Zitat:"Jung ließ die «Septem Sermones ad Mortuos» (sieben Reden an die Toten) als Broschüre im Privatdruck erscheinen. Er verschenkte sie gelegentlich an Freunde. Im Buchhandel war sie nie erhältlich. Später bezeichnete er die Unternehmung als eine «Jugendsünde» und bereute dies im Nachhinein. Die Sprache entspricht ungefähr derjenigen des «Roten Buches». Gegenüber den endlos langen Gesprächen mit inneren Figuren im «Roten Buch» stellen die «Septem Sermones» ein in sich abgeschlossenes Ganzes dar. Darum wurden sie als Beispiel gewählt. Sie vermitteln einen, wenn auch bruchstückhaften, Eindruck dessen was Jung in den Jahren 1913 bis 1917 in Atem gehalten, und was er damals gestaltet hatte. Die Schrift enthält bildhafte Andeutungen oder Vorwegnahmen von Gedanken, die in Jungs wissenschaftlichem Werk später eine Rolle spielten, vor allem die Gegensatznatur des Geistes, des Lebens und der psychologischen Aussage. Das Denken in Paradoxien war es, das Jung bei den Gnostikern angezogen hatte. Deshalb identilizierte er sich hier mit dem Gnostiker Basilides (anfangs des 2. Jahrhunderts n. Chr.) und hielt sich zum Teil auch an dessen Terminologie, z. B. Gott als ABRAXAS. Dies entsprach einer spielerischen und beabsichtigten Mystifizierung. Jung gab seine Erlaubnis zur Publikation in seinem Erinnerungsbuch nur zögernd und nur «um der Ehrlichkeit willen». Die Auflösung des Anagramms am Schluß des Buches hat er nicht verraten."
dieser Text ist copyrightfrei
0 Comments:
Post a Comment
<< Home